DIE IRRE VON CHAILLOT
/ eine Lynchkomödie
Jan
Eine Bande Grandes Dames wehrt sich gegen die Vertreibung aus ihrem Bohème-Viertel. „Wir oder Ihr!“ skandieren sie und ertränken die Spekulanten in den Pariser Kanälen. Das Ensemble Mariakron versetzt die unauffällig brutale Boulevardkomödie von Jean Giraudoux von der Seine an die Spree und inszeniert sie als Schlachtfest gegen urbane Durchschnittlichkeit.
Cornelius Schwalm radikalisiert das betulich angestaubte Theaterstück für die lokal-emanzipative Verwertung. Seine Inszenierung diagnostiziert jene sich über Berlin stülpende neuartige Ordnung, die droht, unseren sympathischen Moloch in die politisch-gesellschaftliche Seelenlosigkeit anderer Städte einzureihen. Durch die Aufwertung ganzer Viertel gedeiht eine leicht zufriedenstellende Klientel und die Unbequemen werden an den (Stadt-)Rand gedrückt. Peu à peu werden Freiheit, Chaos und das raue Temperament Berlins überpinselt und glatt geputzt. Schnödes Ruhemonopol der Besitzer statt tönende Clubseeligkeit der Bewohner. Oder zertrampelt der Durchschnittliche die Phantasten, die Lichtscheuen, die Seltsamen-Einsamen, die Träumer und nachgiebig Nicht-Integrierbaren?
Die ausgemachten Zerstörer werden in einem knallharten Schauprozess zum Tode verurteilt und Berlin aus dem Würgegriff befreit. Klappe zu, Kapitalist tot: Die Guten haben über die Bösen gesiegt. So einfach ist das. Die Spekulanten-Makler-Besitzer-Spießer verwesen im Keller, oben errichten wir romantische Inseln. Dem Aufbruch in eine ungewisse, aber neue Zukunft steht am Ende dieses Abends jedenfalls nichts mehr im Wege.
Wenn das Stück lange genug läuft, dürften Ärzte, Apotheker und soziale Seelenklempner jeder Art den Besuch dieser »Irren von Chaillot« zum Abbau zerstörerischer innerer Kräfte und Frustrationen verschreiben.
(neues deutschland, 27. Januar 2014)
Mit Silvina Buchbauer / Mareile Metzner / Robert Rating / Anne Retzlaff / Matthias Rheinheimer / Verena Unbehaun Text / Regie Cornelius Schwalm Dramaturgie / Text Sophie Nikolitsch Bühne Hovi-M Kostüm Andrea Göttert Produktion Theaterdiscounter & Mariakron
MARIAKRON ist ein Gemeinschaftsprojekt von Cornelius Schwalm, Verena Unbehaun und Sophie Nikolitsch. Sie kriechen seit 2010 mit variierenden Mitstreitern durch das Tal der Lächerlichkeit, um irgendwann auf der Seite des Ruhms wieder hervorzukommen. Ihr Interesse gilt der unmittelbaren Umwelt, die sie poetisch überhöht abbilden. Nach „Mongoflipper“ 2014 präsentierten MARIAKRON im Januar 2015 die zweite Koproduktion mit dem Theaterdiscounter.
Jean Giraudoux schrieb Die Irre von Chaillot als Satire auf das Treiben der Spekulanten im besetzten Paris 1943. Das Stück wird meist als Boulevardkomödie aufgeführt, in der die Gruppenermordung der „schädlichen Geschäftemacher“ nicht weiter thematisiert und im Plot erlösend hingenommen wird. Mariakron untersucht in einer freien Bearbeitung die inhaltliche Brisanz des Stücks, denkt es brutal weiter und klammert auch die politische Position des Autors nicht aus.